Ein Corona-Todesfall und ein langer Kampf um Gerechtigkeit
#6 – Heute mit einer NDRWDRSZ-Recherche zu Corona-Infektionen auf der Arbeit
In der gemeinsamen Wohnung hat sich fast nichts verändert. An der Glastür zum kleinen Büro hängt noch immer eine Foto-Collage. Für jedes Jahr ein Foto, von 1988 an, dem Jahr, in dem sich Mehmet Turhan und seine spätere Frau Anja Gollmer auf der Arbeit kennengelernt haben. „Die Zeit vergeht, doch die Liebe bleibt“, steht darüber. Nur eine Sache ist jetzt anders. Das Klingelschild: Anja Gollmer heißt jetzt Anja Gollmer-Turhan. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie dessen Namen angenommen.
Mehmet Turhan hatte Angst vor dem Virus, so erzählt es seine Frau bei mehreren Treffen. Der 56-Jährige hatte chronische Schmerzen, ein schwaches Herz, musste jede Woche zur Blutwäsche. „Aber er war zu pflichtbewusst, um daheim zu bleiben“, sagt Anja Gollmer-Turhan. Außerdem habe er seine Arbeit als Schlosser immer geliebt.
Es war mitten in der ersten großen Winterwelle 2020, der harte Weihnachts-Lockdown kündigte sich an. Das Fieber beginnt an einem Samstag, 13. Dezember 2020. Am folgenden Montag wird Mehmet Turhan beim Hausarzt positiv getestet, der Atem wird schlechter, mehrmals wird er ohnmächtig. Eine Woche später, fünf Tage vor Weihnachten, schickt ihn sein Arzt ins Vivantes-Klinikum in Berlin-Reinickendorf. Lungenentzündung, Beatmung, Koma. Fünf Wochen später ist Mehmet Turhan tot.
Anja Gollmer-Turhan ist sich sicher: Ihr Mann kann sich nur auf der Arbeit angesteckt haben, denn sonst habe er in den Tagen vor der Infektion fast niemanden getroffen. Er hatte chronische Schmerzen und musste wegen einer Fettstoffwechsel-Krankheit regelmäßig zur Blutwäsche. Zur Arbeit fuhr er alleine im Auto, die Einkäufe erledigte seine Frau, Besuch hatten sie keinen. Und Anja Gollmer-Turhan war erst 14 Tage später positiv, kommt als Indexperson also auch nicht in Frage.
Deshalb drängt Gollmer-Turhan darauf, dass der Tod ihres Mannes als Arbeitsunfall anerkannt wird. Doch sowohl Turhans Arbeitgeber, als auch die zuständige Berufsgenossenschaft sehen das anders. Auf der Arbeit habe es gute Sicherheitsvorkehrungen gegeben und es habe so gut wie keinen Kontakt mit anderen infizierten Kolleg*innen gegeben. Es sei nicht ausreichend wahrscheinlich, dass er sich auf der Arbeit infiziert habe.
Seit fast zwei Jahren kämpft Anja Goller-Turhan nun den gleichen Kampf wie viele andere auch. Ihr Kampf zeigt, auf welche Probleme Menschen stoßen, die versuchen, sich gegen die Berufsgenossenschaften durchzusetzen.
Ihr lieben Recherche-Interessierten:
Heute Abend laufen zwei Stücke über das strukturelle Problem hinter Fällen wie dem von Anja Gollmer-Turhan bei tagesschau.de und bei sueddeutsche.de, morgen auch in der Süddeutschen Zeitung. Der Kern: Die einzigen drei unabhängige Beratungsstellen für Berufskrankheiten in Deutschland, finanziert von den Landesregierungen in Bremen, Hamburg und Berlin, kritisieren die Ermittlungen der Berufsgenossenschaften. Die drei Beratungsstellen haben sich deshalb mit einem internen Brandbrief an das Bundesarbeitsministerium gewandt. In diesem Brief, der NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung vorliegt, kritisieren sie, dass die Ermittlungen oft zu ungenau seien.
In den vergangenen beiden Jahren haben die Beratungsstellen nach eigenen Angaben die Akten von mehreren Dutzend Fällen durchgearbeitet, in denen Anträge zunächst abgelehnt wurden. Immer wieder würden dabei wichtige Beweismittel nicht berücksichtigt – sogar dann nicht, wenn Betroffene ganz konkret darauf hinweisen.
Gegenüber dem Arbeitsministerium haben die Beratungsstellen in ihrem Brief deshalb Vorschläge gemacht, wie das betreffende Sozialgesetzbuch VII geändert werden müsste. Das Arbeitsministerium lehnt dies jedoch ab, wie ein interner Schriftwechsel zeigt, der NDR, WDR und SZ vorliegt.
Hier geht’s zum Text der Tagesschau und hier zur Süddeutschen Zeitung.
Anja Gollmer-Turhan ist seit fast einem Jahr krank geschrieben. Dabei will sie wieder arbeiten, fürs Berliner Finanzamt, wenigstens stundenweise.
Gollmer-Turhan engagiert sich weiter als Schwerbehindertenvertretung in der Finanzbehörde. Doch nach dem Tod ihres Mannes haben sich ihre Panik-Attacken verstärkt. In den Monaten danach konnte sie nicht mehr mit der U-Bahn fahren, kaum noch einkaufen gehen. „Manchmal reicht es schon, wenn ich mit ein paar Freunden zusammensitze und die lauter sprechen. Das ist wie eine Überforderungsreaktion. Dann muss ich mich fluchtartig verabschieden.“
Eine fünfwöchige Reha in Heiligendamm an der Ostsee, eine sechswöchiger Aufenthalt in einer psychischen Tagesklinik und monatelange Therapie später ist Gollmer-Turhan noch immer krank geschrieben.
Die Beschäftigung mit dem Tod ihres Mannes, mit der Berufsgenossenschaft nimmt sie unglaublich mit, sagt Gollmer-Turhan. „Jeder Brief, jede E-Mail die kommt, die reißt es wieder auf. Wo ich dann auch immer wieder ins Grübeln komme: Mache ich weiter? Lasse ich es sein? Aber nein“, sagt sie. „Ich denke mein Mann hätte das so gewollt, dass ich das weitermache.“ Auch wenn sie es finanziell nicht nötig hätte, die Gerechtigkeit will sie ihrem toten Mann zuliebe durchsetzen.
Deshalb will Gollmer-Turhan den Fall ihres Mannes mit der Öffentlichkeit teilen, deshalb hat sie inzwischen mit Hilfe des Deutschen Gewerkschafts Bundes eine Klage gegen die Berufsgenossenschaft eingereicht. Der Prozess wird sich wohl noch über Jahre ziehen.
Bald gibt’s hier die nächste reguläre Ausgabe meines Recherchebriefs. Habt Ihr in den vergangenen Tagen und Wochen gute Recherchen gesehen, die ich kennen und hier in den kommenden Tagen empfehlen sollte? Ich freue mich über Empfehlungen in den Kommentaren oder an daniel.drepper@proton.me.
Alles Gute und bis zum nächsten Recherchebrief
Daniel