Günter Wallraff: Eine Lobrede auf sein Lebenswerk
#17 – heute mit: Einer Laudatio auf ein Vorbild für engagierten, investigativen Journalismus
Ihr lieben Recherche-Interessierten:
Gestern Abend ist der bekannte Undercover-Journalist Günter Wallraff für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden – bei der Feier des „medium magazin“ zu den Journalist*innen des Jahres. Wallraff war leider krank und konnte nicht selbst in Berlin sein, dabei hätte ich ihm gerne persönlich gedankt.
1977, als Günter Wallraff sein Bild-Enthüllungsbuch „Der Aufmacher“ veröffentlicht hat, war meine Mutter 16 Jahre alt – und sehr beeindruckt von dem, was Wallraff als „Hans Esser“ verkleidet über die Bild herausgefunden hat. Als ich knapp 30 Jahre später Journalist wurde, hat mir meine Mutter genau eine Sache mit auf den Weg gegeben: Du darfst niemals zur Bild-Zeitung gehen. Danke, Günter Wallraff, für diesen sehr direkten, persönlichen Impact auf mein (Journalisten-)Leben.
Gestern also durfte ich die Laudatio auf Günter Wallraff halten. Das war mir eine große Ehre. Beim Formulieren der Rede ist mir noch einmal bewusst geworden, wie umfassend das Lebenswerk von Wallraff ist – und wie wichtig für den Journalismus und die Investigation in Deutschland.
Ich habe dafür auch noch einmal tiefer in die Arbeit von Wallraff selbst reingeschaut. Das Reclam-Buch „Im Einsatz für Aufklärung und Menschlichkeit: Existenzielle Erfahrungen und Ermittlungen“ von Wallraff, aufgelegt im Jahr 2022, gibt wie ich finde einen guten Überblick – und daher empfehle ich es heute auch in meinem anderen Newsletter „Sachbuchliebe“, den ihr hier abonnieren könnt.
Hier aber jetzt das Manuskript meiner gestrigen Rede auf Günter Wallraff.
(Günter Wallraff im Jahr 2022. Bild von Superbass, CC BY-SA 4.0)
In den USA gibt es eine lange Geschichte des engagierten, investigativen Journalismus, die zurückreicht bis ins 19. Jahrhundert.
Da wäre der Fotojournalist Jacob Riis, der in „How the Other Half Lives“ die unmenschlichen Bedingungen in den New Yorker Slums dokumentierte.
Da wäre Ida Tarbell, die in ihren Recherchen unter anderem das Ölmonopol von John D. Rockefeller auseinandernahm.
Da wäre Nelly Bly, die sich undercover in eine Psychatrie einweisen ließ.
Und da wären – Jahrzehnte später – die Journalist*innen der Chicago Sun-Times, die sich eine ganze Bar kauften, um dort die Gespräche zwischen Geschäftsleuten und korrupten Beamten abzuhören.
Diese Journalist*innen wurden Muckraker genannt, abfällig, weil sie immer nur nach unten schauten, in den Dreck, den sie aufwirbelten – und alles andere nicht in den Blick nahmen.
Dieser Journalismus deckt Missstände auf und möchte damit auch etwas erreichen. Er bringt eine Grundhaltung mit und will denen eine Stimme geben, die keine haben. Er rückt keine angebliche Objektivität in den Vordergrund, sondern nimmt sich der Schwachen und Ausgebeuteten an. Er setzt sich für eine Sache ein.
In Deutschland fehlt uns diese Geschichte der großen Muckraker, diese Geschichte des engagierten investigativen Journalismus. Beziehungsweise: Sie würde uns fehlen, gäbe es nicht diesen einen Journalisten, der genau das in Deutschland über Jahrzehnte etabliert hat, lange Zeit alleine, heute mit einem Team und einem großen Sender im Rücken. Und mit immer mehr Nachahmern.
Günter Wallraff.
Günter Wallraff hat schon undercover Skandale aufgedeckt, da waren viele in diesem Raum – inklusive mir – noch nicht einmal geboren. Wallraff war nicht nur Hans Esser bei der Bild. Wallraff arbeitete als Arbeiter in einer Autofabrik, in einer Werft, in einem Stahlwerk, bei McDonalds oder Thyssen, in einem Callcenter, in einer Brotfabrik, als Portier, als Mönch und als Paketbote. Er ließ sich als Alkoholiker in die Psychiatrie einweisen, nahm an klinischen Studien der Pharma-Industrie teil, lebte obdachlos und tat so, als wolle er den USA Napalm verkaufen.
Zu einer Zeit, in der es für die sogenannten Gastarbeiter in Deutschland keine Lobby gab, hat er sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Lage versetzt und diese beschrieben. Als türkischer Gastarbeiter Ali arbeitete er bei verschiedenen Unternehmen und veröffentlichte das Buch „Ganz unten“.
Er selbst hat einmal gesagt, dass er sicher nicht wisse, wie ein Ausländer die ganzen Demütigungen und den Hass verarbeiten könne, wie es ist, nicht aus dieser Rolle herausschlüpfen zu können, so wie er es als Journalist damals konnte. „Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann.“ Und er hat diese Erkenntnis der Mehrheitsgesellschaft vermittelt. Damals schon, zu einer Zeit, als diese Debatten noch einmal ganz anders verliefen, als sie es heute tun.
Lange ist Günter Wallraff für seine Arbeit angefeindet und bekämpft worden, auch von anderen Journalist*innen. Undercover gehen, sich verkleiden, mit versteckter Kamera aufzeichnen – auch weil es in manchen TV-Magazinen, im Boulevard und für Verbrauchertipps inflationär genutzt wird, hat diese Art des investigativen Journalismus nicht immer den besten Ruf.
Dabei ist die verdeckte Recherche eine der aufwändigsten und schwierigsten Formen der Recherche. Es gibt enge medienrechtliche Vorgaben, es bedarf einer aufwändigen Vor- und Nachrecherche. Und die verdeckte Recherche selbst muss extrem gut organisiert und dokumentiert werden. Verdeckte Recherche ist viel mehr als irgendwo verkleidet mit Knopflochkamera herumzulaufen. Sie ist eine der großen Herausforderungen im Journalismus.
Ich glaube, dass Günter Wallraffs Arbeit auf lange Sicht so gut gealtert ist wie er selbst.
Günter Wallraff hat über das berichtet, was er vorgefunden hat. Und er hat sich ganz konkret gegen das von ihm erlebte Unrecht eingesetzt. Die unsägliche Debatte über Objektivität im Journalismus hat Wallraff – so glaube ich – noch nie gekratzt.
Er hat sich in Athen auf dem Syntagma-Platz angekettet, im Protest gegen die faschistische Regierung in Griechenland – und wurde dafür gefoltert und ins Gefängnis gesteckt. Er setzt sich für unterdrückte Stimmen ein, für Dissidenten und Verfolgte und gegen Rassismus. Er versucht, die Welt jeden Tag ein wenig besser zu machen.
Vor rund zehn Jahren hat RTL ihn geholt. Damals, 2012, hätte er schon fünf Jahre lang in Rente sein können. Stattdessen startete er noch einmal neu durch. Seitdem hat er mit seinem Team bei RTL zahlreiche Undercover-Recherchen veröffentlicht. Und ist heute, mit 80 Jahren, noch immer unglaublich präsent.
Meine Quellen im Team Wallraff haben mir gesagt, er treffe noch immer wichtige Entscheidungen, er unterstütze mit seinen Kontakten, er berate mit über die Gewichtung der Themen und sei natürlich – so sieht man es ja auch bei RTL – selbst immer noch regelmäßig unterwegs auf Drehs. Und in den Drehpausen, in denen andere die verdiente Pause genießen, telefoniere er mit Dissidenten in der Türkei oder mache Liegestützen.
Das Team von „Team Wallraff – Reporter undercover“ macht heute sogar mehr Undercover-Recherchen als noch zum Start vor zehn Jahren, es erstreitet wichtige, presserechtliche Urteile, der Sender ist glücklich, die Geschichten haben eine hohe Reichweite und sie bewirken ganz konkrete Veränderungen. Günter Wallraff erreicht die Menschen, mit 80 genauso wie damals mit 40 Jahren.
Günter Wallraff ist ein Vorkämpfer. Nicht nur für die verdeckte Recherche, sondern für den gesamten deutschen Journalismus.
Und Günter Wallraff ist ein echtes Vorbild, in seiner Haltung, in seinem Einsatz, in dem, was er für viele Millionen Menschen in Deutschland und darüber hinaus erreicht hat.
Respekt, lieber Günter, Wallraff – und ganz vielen Dank – für diese Lebensleistung!
Falls Ihr in den kommenden Tagen gute Recherchen lest, hört, schaut – egal ob lokal, national oder international: schreibt sie mir hier in die Kommentare oder schickt sie mir an daniel.drepper@proton.me. Ich nehme sie dann im Zweifel in meine nächste reguläre Ausgabe dieses Recherchebriefs auf. Und falls Euch der Newsletter gefällt, freue ich mich sehr, wenn Ihr ihn weiterleitet oder in den sozialen Medien oder Euren WhatsApp-Gruppen empfehlt.
Alles Gute und bis zum nächsten Recherchebrief
Daniel
Danke, Daniel, dass du diese auch hier teilst. Ich hatte das ein oder andere Mal Gaensehaut. So eine schoene Wuerdigung
Ein ganz großer Journalist - und eine sehr schöne Laudatio!