Wie ein deutscher Tierarzt auf einem Transportschiff in den Tod fuhr
#7 – Heute außerdem mit: Erpressung, Klima-Schmiergeld, Kita-Gewalt, Sanktionsumgehung und gefährdeten Afghanen
Ihr lieben Recherche-Interessierten:
Grippe, Weihnachten, eine größere eigene Veröffentlichung (dir Ihr Sonntagabend mit diesem Newsletter direkt ins Postfach bekommt) — es hat ein wenig gedauert, bis ich wieder dazu gekommen bin, ein paar starke Recherchen für Euch zusammen zu stellen.
Deutlich fleißiger waren die Kolleg*innen von Correctiv und vom Global Investigative Journalism Network, die in den vergangenen Tagen jeweils die besten Recherchen des Jahres zusammengetragen haben.
Beide haben gute Stücke ausgewählt, daher direkt die Empfehlung, dort weiterzustöbern:
Das Global Investigative Journalism Network empfiehlt Recherchen zu Katar, zum rbb, zu Hildmann, Kliemann, Sneakern, Fußballfrauen, Wirecard und Grundwasser. Hier geht’s zu den entsprechenden Empfehlungen und Links auf der Webseite.
Der tolle Correctiv-Spotlight-Newsletter ist leider nachträglich nicht mehr im Netz zu finden, daher: jetzt abonnieren. Die folgenden Recherchen haben die Kolleg*innen zum Jahresabschluss empfohlen — zu Mariupol, Butscha, Xinjiang, zur Sandmafia, zum kalifornischen Megasturm, zu russischen Oligarchen, zu russischen Elite-Hackern, zu Missbrauch in einer Sekte, zu True Crime aus Großbritannien.
Trotz so vieler guter Empfehlungen bei den Kolleg*innen, habe ich auch noch ein paar Tipps für Euch zu starken Recherchen, die in den vergangenen Wochen erschienen sind. Los geht’s.
Zeit — Dem Sturm ausgeliefert
Jeden vierten Tag geht auf den Weltmeeren ein großes Schiff verloren. Jeden. Vierten. Tag. Die Schiffe sinken, sie brennen, sie kollidieren. Aber während über gefühlt jeden Flugzeugabsturz wochenlang berichtet wird, interessiert sich kaum jemand für Schiffe, die mit dutzenden Menschen an Bord auf den Meeresgrund sinken. Weil von diesen Unglücken oft arme Arbeiter aus Staaten wie den Philippinen betroffen sind? Die Zeit hat (bereits im November) den Untergang eines großen Viehtransportschiffs rekonstruiert — wohl auch, weil diesmal ein deutscher Tierarzt dabei war und sich die Familie seit Monaten für die Aufklärung des Untergangs einsetzt. Reporter Moritz Aisslinger hat mit den Hinterbliebenen gesprochen und beschreibt eine Branche, die fast ohne Gesetze zu arbeiten scheint, die Menschen ausbeutet, gefährdet, tötet. Ein beeindruckendes Stück Journalismus.
Wem die gut recherchierte Reportage der Zeit gefällt, dem empfehle ich dringend das Buch „The Perfect Storm: A True Story of Men Against the Sea“. Reporter Sebastian Junger beschreibt dort den Untergang eines Fischereischiffs vor der Ostküste der USA. Obwohl die komplette Belegschaft stirbt, schafft es der Autor, die Stunden vor dem Untergang detailliert nachzuzeichnen. Das Buch heißt auf Deutsch „Der Sturm – die letzte Fahrt der Andrea Gail“ und ist mit George Clooney und Mark Wahlberg verfilmt worden.
(Ein kleiner Hinweis in eigener Sache: Gut erzählte Sachbücher empfehle ich regelmäßig in meinem Newsletter Sachbuchliebe, den ihr hier abonnieren könnt.)
SZ – „Dann wirst du tun, was immer ich verlange“
Jeden Tag, sagt das BKA, bekomme es mittlerweile bis zu zehn Hinweise auf diese Erpressung: Weibliche Fake-Profile schreiben Männer in sozialen Medien an, flirten mit diesen, motivieren sie, sich gleichzeitig mit Ihnen vor der Kamera nackt auszuziehen und zu befriedigen. Nach dem Call kommt die Nachricht: Entweder du zahlst mehrere tausend Euro oder wir senden das Video an deine Freundesliste. Die Recherche der Süddeutschen Zeitung zeigt, dass die Masche zu einem immer größeren Problem wird und wie sie funktioniert.
BR/Zeit – Geld her, wir haben Eure Daten!
Eine andere Art der Online-Erpressung fasziniert mich seit Jahren – auch deshalb, weil ihre Auswirkungen auf uns als Gesellschaft so groß sind und wir mit jedem Jahr anfälliger werden. Hacker, die Daten stehlen (etwa aus Krankenhäusern), verschlüsseln und nur gegen Lösegeld wieder freigeben. Der Bayerische Rundfunk hat gemeinsam mit der Zeit zu einer der wichtigsten Erpresser-Gruppen recherchiert, hat mutmaßliche Täter*innen identifiziert, beschreibt die Methoden und die Folgen. Neben dem BR-Feature gibt’s hier das in Kooperation recherchierte Stück in der Zeit.
NPR / floodlight — In the Southeast, power company money flows to news sites that attack their critics
„Floodlight“ ist ein relativ neues Rechercheteam in den USA. Die Kolleg*innen recherchieren, wie große Firmen sich gegen den Klimaschutz stemmen und versuchen, politische Entscheidungen für das Klima zu verhindern. Gemeinsam mit NPR hat Floodlight vor wenigen Tagen veröffentlicht, wie ein Elektrizitäts-Unternehmen aus Alabama über eine Agentur fast eine Millionen Dollar an sechs kleine Lokalredaktionen zahlte – die dann wiederum kritisch über Klimaschutz berichteten. Eine spannende Geschichte über den schmutzigen Kampf um die öffentliche Meinung in der Klimakrise.
BR — Gewalt in Kitas: Zahl der Meldungen steigt stark an
Mit 61 Erzieherinnen aus verschiedenen bayerischen Kitas hat der BR gesprochen, hat 76 Aufsichtsbehörden nach Berichten über Gewalt und Misshandlungen in Kitas gefragt und hat interne Unterlagen ausgewertet. Das Ergebnis ist erschreckend. Zumal die Situation nicht besser, sondern schlimmer wird. Das einzig Gute an der Care-Krise ist, dass sie gerade in den vergangenen Wochen immer häufiger thematisiert wird. Aber noch immer gibt es längst nicht genug Recherchen zu den Problemen in den Kitas. Ich erinnere mich kaum an größere, investigative Stücke aus den vergangenen Jahren. Mit einer Ausnahme: Vor mehr als sechs Jahren hatten die Kolleg*innen von Zeit Online umfangreich und beeindruckend recherchiert. Falls Ihr andere, empfehlenswerte Recherchen zum Thema kennt, lasst es mich wissen.
Spiegel — Hat der Wissenschaftsbetrieb ein #MeToo-Problem?
Hinter der eher unscheinbaren Überschrift verbirgt sich eine starke Recherche meiner früheren Kollegin Juliane Löffler, die sich gemeinsam mit Lukas Eberle den Fall eines Kölner Professors vorgenommen hat. Dieser soll seine Doktorandinnen über Jahre bedrängt und erniedrigt haben. Wie oft in solchen Fällen sind die Details erschütternd – auch der mangelhafte Umgang der Uni Köln mit dem Fall. Da ich aus Erfahrung weiß, welch hohe Hürden solche Art von Recherchen auch presserechtlich in Deutschland nehmen müssen, lege ich Euch diese Recherche ganz besonders ans Herz.
Zeit — Pflug und Trug
Schon Anfang Dezember berichtete die Zeit darüber, wie der deutsche Landmaschinenhersteller Claas offenbar versucht hat, die Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Und für den Bau von Mähdreschern oder Traktoren benötigte Teile verbotenerweise über die Grenze zu schmuggeln — wohl weil das Russlandgeschäft für Claas seit Jahren besonders lukrativ ist. Die mutmaßliche Sanktionsumgehung soll in einem Geheimprojekt angeblich über Monate geplant worden sein.
RND — Russische Staatsmedien: Neue Propagandakanäle in Deutschland unterlaufen EU-Sanktionen
Im März 2022 verhängte Sanktionen gegen das russische Staatsmedium RT DE sollten die Desinformation des Kremls in Deutschland eindämmen. Recherchen des Redaktionsnetzwerks Deutschland von Mitte Dezember zeigen, dass RT DE offenbar aktiv daran gearbeitet hat, diese Sanktionen zu unterlaufen – indem es offenbar einfach neue Kanäle aufgemacht hat, die nach außen keine Verbindung zu RT DE zeigen, aber Kriegsverbrechen leugnen und ukrainische Flüchtlinge verunglimpfen. Einer dieser Kanäle heißt „Roter Oktober“ und ist in den vergangenen Monaten in den sozialen Medien mehrere Millionen mal angeschaut worden.
BR — So bringen Biometrie-Geräte Afghanen in Gefahr
Millionen Fotos, Fingerabdrücke, Iris-Scans sind mit diesen Geräten in Afghanistan gespeichert worden, vom US-Militär, aber auch von der Bundeswehr. Viele dieser Geräte sind in die Hände der Taliban gefallen — und sind quasi ungesichert. Das Passwort besteht aus einer Tastenkombination, die in der Anleitung steht und es gibt keine Verschlüsselung. Was für ein Desaster. Starke Recherche der BR-Kolleg*innen, die sich auch auf die Vorarbeit des Chaos Computer Clubs stützt.
Falls Ihr in den kommenden Tagen gute Recherchen lest, hört, schaut – egal ob lokal, national oder international: schreibt sie mir hier in die Kommentare oder schickt sie mir an daniel.drepper@proton.me.
Alles Gute und bis zum nächsten Recherchebrief
Daniel